Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen wir – neben der Autorin dieses Newsletters sind das der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer – jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Der heutige Newsletter baut auf der Unstatistik vom Dezember 2020 auf.
Einige Ausgaben der Unstatistik hatten in den vergangenen Monaten einen anderen als den vertrauten Charakter. Statt nur den Finger in die Wunde zu legen, wo Statistik missbraucht wurde, haben wir regelmäßig Vorschläge unterbreitet, wie man es besser machen kann. Die Dezember-Unstatistik ist wie so vieles im Corona-Jahr 2020 von Ambivalenz geprägt und verweist auf ein formal besonders gelungenes Beispiel der statistischen Kommunikation, das aber gleichzeitig eine fragwürdige inhaltliche Botschaft transportiert.
RKI-Infografik vergleicht Schnelltest-Varianten anschaulich
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat am 10. Dezember eine Infografik veröffentlicht, die dabei helfen soll, die Testergebnisse von Antigen-Schnelltests auf SARS-CoV2 zu verstehen. Sie vergleicht dabei zwei unterschiedliche Szenarien: Einerseits das gezielte Testen von symptomatischen Personen, andererseits die Durchführung von Massentests – also ungezielte Tests von Personen, die weder Symptome haben noch Kontakte zu infizierten Personen hatten.
Die Ergebnisse sind in Form von Bäumen mit natürlichen Häufigkeiten dargestellt: Anhand von jeweils 10.000 Personen, unter denen 1.000 (bei gezielten Tests) oder 5 (bei Massentests) tatsächlich infiziert sind, wird verdeutlicht, wie viele Menschen von den Antigen-Tests fälschlicherweise als infiziert oder nicht infiziert erkannt werden. In Prozenten ausgedrückt, entspricht das Werten von 10% beziehungsweise 0,5%. Man nennt solche Werte die Prävalenz.
Quelle: RKI-Infografik
Die Sensitivität gibt an, wieviel Prozent der tatsächlich Infizierten ein Test richtigerweise entdeckt. Die Spezifität gibt die Wahrscheinlichkeit an, einen tatsächlich Gesunden auch korrekt als solchen zu diagnostizieren.
Durch einfaches Auszählen und Bezugsetzen der jeweiligen Personen in den vier Gruppen (richtig positiv oder negativ; falsch positiv oder negativ) können Leser:innen mit Hilfe der Grundrechenarten zwei wichtige Wahrscheinlichkeiten ermitteln:
Wie hoch ist mein Risiko, infiziert zu sein, obwohl der Test negativ ist?
Wie hoch ist mein Risiko, infiziert zu sein, wenn der Test positiv ist?
Massen-Schnelltests liefern deutlich mehr falsch positive Ergebnisse
In den beispielhaft dargestellten Szenarien wird sofort klar, dass Massen-Schnelltests zwar relativ zuverlässig Infizierte erkennen können; das Risiko, infiziert zu sein, obwohl der Test negativ ist, liegt bei lediglich 0,01%. Beim gezielten Testen steigt es etwas an – dort beträgt es 2,2%. Dieser absolut kleine Anstieg des Risikos einer Fehldiagnose infizierter Personen um 2,19 Prozentpunkte bringt aber eine erhebliche Reduktion des Risikos einer Fehldiagnose nicht infizierter Personen mit sich. Beim Massentest beträgt das Risiko, dass ein positiver Corona-Schnelltest falsch ist, also in Wirklichkeit keine Infektion vorliegt, ganze 98%. Fast alle, nämlich 98 von 100 Getesteten, die ein Massen-Schnelltest als infiziert diagnostiziert, sind also gesund! Gezieltes Testen reduziert dieses Risiko erheblich. Es sinkt in diesem Fall um 79,6 Prozentpunkte auf 18,4%. Immerhin vier von fünf positiv Getesteten sind demnach in diesem Szenario tatsächlich infiziert.
Die unausgesprochene Botschaft des Szenario-Vergleichs ist allerdings kaum zu überlesen: Man sollte sich nur testen lassen, wenn ein konkreter Verdacht vorliegt beziehungsweise typische Symptome auftreten. Das ist durchaus bemerkenswert, weil das Bundesgesundheitsministerium einen Tag nach Erscheinen der Infografik empfohlen hat, die Schnelltests beispielsweise in Schulen, Kitas und Pflegeheimen vermehrt einzusetzen.
Aber ist die Situation wirklich so eindeutig?
Ein Anteil von lediglich fünf tatsächlich Infizierten unter 10.000 Getesteten ist mit Blick auf die derzeitige Inzidenz kaum wahrscheinlich. Unter Annahme einer Dunkelziffer von etwa Faktor fünf, die RKI-Leiter Lothar Wieler im November kommuniziert hat, wäre eine Prävalenz von 1%, also ein Anteil von 100 Infizierten unter 10.000 Massengetesteten, weitaus realistischer.
Auf das Risiko, infiziert zu sein, wenn der Test negativ ist, hat diese veränderte Annahme kaum Einfluss. Es liegt in diesem Szenario bei 0,2%, also absolut 2,0 Prozentpunkte unter dem Risiko einer negativen Fehldiagnose infizierter Personen. Umgekehrt sind die Auswirkungen jedoch erheblich. Das Risiko, dass ein positiver Corona-Schnelltest falsch ist, liegt jetzt nur noch bei 71,2%. Unter 100 als infiziert Diagnostizierten sind es dann immerhin 29 tatsächlich, 71 sind es nicht.
Relative Risiken werden oft missverstanden
Wir haben in früheren Unstatistiken regelmäßig darauf hingewiesen, wie missverständlich die Darstellung von relativen Häufigkeiten bzw. relativen Risiken sein kann, zuletzt in unserer November-Unstatistik zur Wirksamkeit des Corona-Impfstoffs. Selbst viele Mediziner:innen können Testergebnisse nicht richtig einordnen, wenn sie Informationen über Sensitivität, Spezifität und Prävalenz in Form relativer Häufigkeiten beziehungsweise Wahrscheinlichkeiten erhalten, wie auch diese Studie zeigt.
Das liegt daran, dass das Rechnen mit bedingten Wahrscheinlichkeiten sehr abstrakt ist. Natürliche Häufigkeiten erleichtern es nicht nur Ärzt:innen, die korrekten Wahrscheinlichkeiten einer Erkrankung aus Testergebnissen abzuleiten. Sie helfen jedem Menschen, der vor der Frage steht, sich ohne konkrete Verdachtsmomente vorsichtshalber testen zu lassen, eine rationale Entscheidung zu fällen und sich verantwortungs- und risikobewusst zu verhalten: Ein positives Testergebnis erfordert es, sich in Quarantäne zu begeben, weil der mögliche Schaden für andere hoch ist. In Panik verfallen muss man deshalb aber nicht.
Sicherheitshalber testen – ja oder nein?
Vor den Weihnachtsfeiertagen stellt sich die Frage: Soll man sich vorsorglich testen lassen, wenn man keine Symptome hat – oder lieber nicht, weil die Testergebnisse nicht „sicher“ sind? Der Test verringert in jedem Fall die Unsicherheit, mit der die Frage „bin ich infiziert“ beantwortet werden kann. Dies gilt – wie oben beschrieben – vor allem für Menschen mit einem negativen Testergebnis.
Für die Entscheidungsfindung, ob man Weihnachten vorsichtshalber alleine feiert oder im Rahmen der Kontaktbeschränkungen Familie und Freunde trifft, kann ein Test deshalb durchaus ein weiterer Mosaikstein sein. Aber er kann einem nicht die Verantwortung für das eigene Verhalten abnehmen. Zumal eine Infektion auch noch nach einem negativen Test auftreten kann, wenn die Ansteckung erst wenige Tage zurückliegt.