top of page

Was braucht es für eine evidenzbasierte Impfstrategie?


Bereits kommende Woche sollen die COVID-19-Impfungen in Großbritannien starten, nachdem der Impfstoff von BioNTech dort zugelassen wurde. Auch für die EU liegt die Zulassung nicht mehr in weiter Ferne. Die Euphorie ist groß – und klar ist zugleich: Es können nicht alle auf einmal geimpft werden. Sehr wahrscheinlich wollen auch gar nicht alle geimpft werden.

Akzeptanz und Freiwilligkeit benötigen Glaubwürdigkeit und Vertrauen

Am 9. November hat deshalb eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Ständigen Impfkommission, des Deutschen Ethikrats und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina ein Positionspapier herausgegeben: Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impfstoff geregelt werden? Wer das Papier liest, findet zwar eine ganze Reihe an Empfehlungen, WAS geschehen sollte. Nach dem WIE sucht man aber ziemlich vergeblich. Weder Impfziele noch zu priorisierende Bevölkerungsgruppen sind präzise benannt. Woran liegt das?


Detailansicht

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina berät Politik und Gesellschaft unabhängig zu wichtigen Zukunftsthemen.

Mit diesen Fragen haben wir uns vor wenigen Tagen in einem Werkstattgespräch des Roman-Herzog-Instituts beschäftigt. Herausforderungen bei der Einführung eines Verteilungsplans des COVID-19-Impfstoffs gibt es zuhauf: Priorisierung, Freiwilligkeit und Gerechtigkeit werden als Prinzipien genannt und sind als solche kaum zu kritisieren. Aber wie können wir sicherstellen, dass diese Prizipien auch eingehalten werden – und wie gelingt eine glaubwürdige Kommunikation?

Vanessa Vu hat das Problem bei Anne Will am vergangenen Sonntag auf den Punkt gebracht:

„Was ich wirklich vermisse, ist eine klare politische Strategie, wo ich als Bürgerin sehe: Das machen wir jetzt und da kommen wir hin.“

Dass sowohl die Impfung an sich als auch die Priorisierung bestimmter Gruppen Akzeptanz finden, setzt ein ganz grundlegendes Vertrauen darin voraus, dass drei zentrale Aussagen zutreffen:

  1. Es gibt eine klare Strategie.

  2. Diese Strategie ist evidenzbasiert und berücksichtigt möglichst viele gesellschaftlichen Auswirkungen.

  3. Die Strategie wird laufend evaluiert und sie wird korrigiert, wenn sich wesentliche Annahmen als falsch erweisen oder Rahmenbedingungen ändern.

Dazu braucht es Transparenz, und zwar aus der Sicht der Bürger:innen – die darunter offensichtlich etwas anderes verstehen als die Art und Weise, wie in den letzten Monaten politische Maßnahmen kommuniziert wurden. Deshalb ist viel Vertrauen in die Politik verloren gegangen und ich fürchte, auch Vertrauen in die Wissenschaft. Es ist deshalb eine zentrale Herausforderung, dieses Vertrauen jetzt wieder herzustellen, um den handelnden Akteuren Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Ich glaube nicht, dass es dafür nötig ist, jedem Einzelnen ein genaues medizinisches oder epidemiologisches Verständnis der Wirksamkeit einer Impfung zu vermitteln. Ich halte das auch nicht für leistbar. Viel wäre aber schon erreicht, wenn das Vertrauen entsteht, dass den Menschen bezüglich der Wirksamkeit und auch bezüglich eventueller Nebenwirkungen nichts vorgemacht wird.

„Deswegen müssen wir immer wieder klarmachen, dass es in dieser Pandemie keine absoluten Wahrheiten gibt. Wir treffen Entscheidungen und finden Kompromisse, auf Basis aktueller Erkenntnisse und nach Abwägen unterschiedlicher Interessen.“

So hat es Jens Spahn in einem FOCUS-Interview am 11.09.2020 formuliert – leider scheint das bisher nur sehr eingeschränkt zu gelingen.

Transparenz erfordert Evidenz auf Basis systematischer Planung

Die nun anstehende Impfstrategie ist eine neue Chance, Transparenz über politisches Handeln zu schaffen. Es muss von Beginn an nachvollziehbar sein, welche Daten und welche Annahmen die Grundlage der Strategie bilden und wie genau welche Interessen abgewogen werden.

Bezogen auf zu erwartende Impferfolge und Nebenwirkungen heißt das, es braucht klare Aussagen darüber:

  1. bei wieviel Prozent der Geimpften Nebenwirkungen erwartet werden und wie viele Menschen das sein werden, ggf. auch mit regionalen Unterschieden;

  2. was unternommen wird, wenn die Daten den statistischen Schluss zulassen, dass die Nebenwirkungen schwerwiegender oder häufiger sind als erwartet, wie es in jeder klinischen Studie verpflichtend anzugeben ist;

  3. wie sich die Wirkung der Impfung zeigt und mit welcher Verzögerung, und anhand welchen Kennzahlen das gemessen wird;

  4. was unternommen wird, wenn die Daten den statistischen Schluss zulassen, dass die Impfung nicht wie erwartet wirkt; auch hier sollte man sich an den Standards klinischer Studien orientieren;

  5. und zuletzt, aber mit am Wichtigsten: Wie sicher man sich bei diesen Aussagen ist bzw. welche möglichen Szenarien unter welchen Rahmenbedingungen eintreten könnten.

Der letzte Punkt adressiert den notwendigen Umgang mit Unsicherheit. Es geht im ersten Schritt nicht darum, schon eine perfekte Lösung zu haben, die eine Sicherheit suggeriert die es nicht gibt: das WAS. Sondern es geht vielmehr um das WIE: Es geht darum einen Prozess zu definieren, der sicherstellt, dass zur Evaluation der Strategie relevante Daten von hoher Qualität erhoben werden. Daten, die valide und reliabel sind, repräsentativ, unverzerrt, hochfrequent, feinräumig. Nur diese können Evidenz schaffen.

Dazu müssen Datenexpert:innen intensiv eingebunden werden. Es ist ein Unding, dass beispielsweise das Statistische Bundesamt bisher keine tragende Rolle in der strategischen Planung spielt – dort arbeiten über 2.000 Menschen, die sich Tag für Tag damit beschäftigen, wie man verlässliche Daten beschafft und daraus entscheidungsrelevante Informationen extrahiert. Leider zieht sich das Problem durch ganz Europa – die amtliche Statistik und die nationalen statistischen Gesellschaften finden viel zu wenig Gehör.


Roman Herzog Institut e.V. on LinkedIn: #Ethik #Verantwortung #Corona

Unser Ziel ist es, drängende Fragen unserer Zeit besser zu durchdringen. Heute haben wir uns einem wichtigen Thema angenommen: der Einführung und dem Verteilungsplan...

Was die Priorisierung angeht, so sollte sie Teil eines Gesamtmodells sein, das der Strategie zugrunde liegt. Dieses Modell muss (vermutete) Wirkzusammenhänge beschreiben und Aussagen zulassen, welche Daten Evidenz liefern können, ob die vermuteten Zusammenhänge korrekt sind. Es braucht vorab Überlegungen dazu, wie Daten erhoben, qualitätsgesichert und ausgewertet werden, um das Modell der Veteilung und damit die Priorisierung zu evaluieren. Insbesondere müssen Kriterien, um die Priorisierung gegegebenfalls anzupassen, ex ante festgelegt werden, so wie zu definieren ist, welche potenziellen Entwicklungen zu welchen Maßnahmen führen würden. Das wäre gute wissenschaftliche Praxis, die Transparenz und damit Evidenz schafft.

Die Impfung: eine gigantische Phase-IV-Studie

Klinische Studien benötigen deshalb vor ihrer Durchführung ein Studienprotokoll. Übertragen wir diesen Ansatz auf die COVID-19-Impfung, die eigentlich nichts anderes ist als eine gigantische Phase-IV-Studie, so müssten vorab Überlegungen zu folgenden Punkten veröffentlicht werden:

  1. Wie ist das genaue Design der geplanten Impfstrategie?

  2. Was sind Einschluss- und Ausschlusskriterien, wer wird priorisiert?

  3. Welches Wirkmodell wird unterstellt, d.h. wie ist der Zusammenhang zwischen Impfung und Ausbreitung der Infektion?

  4. In welchem Ausmaß und welchem zeitlichen Abstand wird eine Wirkung erwartet und wie sicher ist man sich dessen?

  5. Welche Nebenwirkungen werden mit welcher Häufigkeit erwartet?

  6. Was sind Abbruchkriterien oder Kriterien, die zu einer Modifikation der Strategie führen würden und welche Modifikation wäre das?

  7. Welche Daten werden erhoben, welche Erhebungsprobleme sind zu erwarten und wie wird mit diesen umgegangen?

  8. Wie werden die Daten fortlaufend ausgewertet?

  9. Welches statistische Ergebnis belegt, dass die Strategie funktioniert hat?

Diese Offenlegung ex ante ist in meinen Augen unverzichtbar. Es genügt nicht, ex post tägliche Fallzahlen, belegte Intensivbetten und Todesfälle zu veröffentlichen. Es genügt nicht, Kenngrößen wie etwa die Inzidenz oder die Reproduktionszahl zu berechnen, ohne zu thematisieren, wie stark sich Messprobleme (etwa mangelnde Repräsentativität, Güte der Corona-Tests, Ausweitung der Tests) darauf auswirken und wie damit umgegangen wird.

Einer der großen Kommunikationsfehler der letzten Monate war, dass diese Probleme zwar offensichtlich bekannt waren: Politische Entscheider hätten wohl kaum eine 7-Tages-Inzidenz von 200 und mehr abgewartet, wenn ihnen nicht klar gewesen wäre, dass die Inzidenz heute anders zu bewerten ist als im April. Aber niemand hat den Umgang damit im Detail offengelegt, und deshalb entsteht bei vielen Menschen der Eindruck, der politische Umgang mit Corona sei willkürlich und inkonsequent. Das gilt erst recht, wenn das Vertrauen in Politik und Wissenschaft nicht uneingeschränkt vorhanden ist.

„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ (Jens Spahn)

Es ist in Ordnung, Fehler zu machen, aber bitte nicht zweimal denselben Fehler. Wenn wir also von einer evidenzbasierter Strategie sprechen – und etwas anderes darf nicht zur Diskussion stehen – dann müssen wir diese Strategie nicht nur haben, sondern auch glaubwürdig darlegen. Auch wenn nicht jeder diese Strategie von vornherein richtig finden mag, wäre dann zumindest im Nachhinein nachvollziehbar, warum sie beschlossen wurde und was zu tun ist, wenn sie sich nachweislich als falsch herausstellt.

bottom of page